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News 2020

Erfahrungen als Zweitzeuge

Von J. Baum, 05.03.2020

ZWEITzeugen? Das muss doch ZEITzeuge heißen! Oder?

Die schrecklichen Verbrechen des Holocaust liegen nun mehr als 75 Jahre zurück. Viele Zeitzeugen sind leider schon verstorben oder können aus gesundheitlichen Gründen ihre Lebensgeschichten nicht mehr selbst erzählen. Damit diese nicht in Vergessenheit geraten, haben sich vor drei Jahren 17 mittlerweile 12.-Klässler zu ZWEITzeugen ausbilden lassen: sie haben sich mit den Lebensgeschichten von Holocaustüberlebenden (den Zeitzeugen) auseinandergesetzt und erzählen diese nun weiter. Damit leisten die Zweitzeugen nicht nur einen Beitrag gegen das Vergessen, sondern treten im Rahmen einer „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ auch aktiv gegen Diskriminierung und Ausgrenzung heute ein.

Anfang Februar wurde das Zweitzeugen-Projekt zum dritten Mal am Marianum mit einem Jahrgang 7 durchgeführt (siehe Artikel MT, 14.02.20). Damit hat unsere Schule nun drei Jahrgänge voller potenzieller Zweitzeugen!

Zur ersten Generation Zweitzeugen am Marianum gehören Jonas Ahrens, Lukas Brameyer, Lisa Breier, Fabien Büld, Wibke Hartmaring, Kilian Hermes, Kathi Hundertmark, Amelie Jansen, Charlotte Jansen, Ole Kröger, Ine Kroon, Charlotte Masch, Lukas Müller, Lina Sieverding, Eva Terborg, Julian Weidner und Mika Woken.

Im Folgenden berichten fünf von ihnen über ihre Erfahrungen mit dem Projekt:

Amelie:

„Ey, du Jude!“ – diesen Ausdruck habe ich schon öfters mitbekommen und das immer im negativen Kontext. Dass das vor allem hinsichtlich der deutschen Geschichte kein angemessener Wortlaut ist, war mir spätestens nach meiner Ausbildung als Zweitzeugin vor zwei Jahren klar.

Bei unserem Projekt geben wir Lebensgeschichten von Zeitzeugen, die den Holocaust meist auf schrecklicher Weise überlebt haben, an jüngere Schüler weiter. Diese Lebensgeschichten waren auch für immer mich sehr interessant, weil man so etwas nicht im Geschichtsunterricht lernt. Die Geschichten waren für mich immer, egal wie oft ich sie bereits erzählt habe (und das waren wirklich viele Male), bewegend und emotional. Zu erfahren, was Juden und Andersdenkende im zweiten Weltkrieg – vor allem in den Konzentrationslagern – alles durchleiden mussten, ist für mich sehr schockierend.

Aber zugleich ist das Wissen über diese Geschichten so bedeutsam für unsere jetzige Generation. In Zeiten einer immer weiter voranschreitenden Spaltung der Gesellschaft, die Frieden genießen durfte, ist es umso wichtiger die Geschichten zu erzählen, um diese als Warnsignal zu nutzen.

Somit hoffe ich, dass „Ey, du Jude!“ ein für alle Mal aus unserem Beleidigungsrepertoire verschwindet und unser Projekt dabei hilft, Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung von unserem Schulhof zu verbannen.“

Lukas B.:

„Ich habe an dem Zweitzeugen-Projekt teilgenommen, weil mich die Themen Rassismus und Antisemitismus interessieren und ich finde, dass jeder einen Teil dazu beitragen kann, dagegen anzukämpfen. Besonders als ich die schrecklichen Geschichten der Zeitzeugen gehört habe, hat sich das Thema mir in einer nochmals größeren Brisanz dargestellt. Deshalb wollte ich mich gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen und habe an diesem Projekt teilgenommen.

Was mich an dem Projekt sehr begeistert hat, ist, dass fast alle Schüler, mit denen wir das Projekt durchgeführt haben, dieses tatsächlich ernst genommen haben. Sie waren teilweise sehr gefasst von den Lebensgeschichten und haben definitiv verstanden, was für ein Übel den Juden und anderen Gruppen angetan wurde. Ich denke, dass viele von ihnen verstanden haben, dass man gegen Rassismus und Antisemitismus ankämpfen muss und diese Themen niemals verdrängen darf, damit sich solch ein Verbrechen nicht wiederholen kann. Deshalb war das Projekt für mich ein voller Erfolg.

Auch meine Wahrnehmung zu Themen wie Antisemitismus hat sich durch das Projekt verändert. Vor dem Projekt habe ich diese Themen nicht so ernst genommen, wie ich es jetzt tue. Ich dachte, dass es selbstverständlich ist, dass das Geschehene schrecklich war und sich niemals wiederholen darf. Doch durch das Projekt wurde mir gezeigt, dass es viel zu viele Menschen gibt, die diese Themen nicht sehr ernst nehmen, was auch an heutigen Entwicklungen wie vermehrte rechtsextreme Äußerungen vieler Bürger oder die hohen Erfolge der AfD zu erkennen ist. Deshalb habe ich mich dafür eingesetzt und werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Ausgrenzung einzelner Gruppen, etc. zu bekämpfen, damit die Geschichte sich niemals wiederholt. Denn wenn wir als Gesellschaft nicht aufpassen, kann dies erschreckend schnell geschehen.“

Ine:

Ich habe an dem Projekt Zweitzeugen teilgenommen, weil ich es sehr wichtig finde, dass der Holocaust und auch die Geschichten der Überlebenden nicht vergessen werden dürfen. Es ist bewundernswert, was die Überlebenden alles durchgemacht haben und auch geschafft haben. Außerdem sollte man den Leuten vor Augen führen, was für eine grausame Zeit der Holocaust war und was die Nazis für Schlimme Sachen mit den Juden gemacht haben.

Zweitzeuge bin ich aber auch geworden, weil es mir sehr viel Freude bereitet die Geschichten der Überlebenden zu erzählen und das Mitfühlen und Erstaunen der Zuhörer zu sehen. Alleine schon, dass mir jemand zuhört bedeutet für mich, dass sich Leute dafür interessieren, was damals alles passiert ist und wie es den Juden in der Zeit erging.

Irgendwann sind die Zeitzeugen nicht mehr da und können den folgenden Generationen nicht mehr erzählen, was sie alles durchgemacht haben. Und genau dafür sind wir Zweitzeugen dann da. An der Stelle der Zeitzeugen erzählen wir die Geschichte weiter, damit niemals vergessen wird, wie ungerecht die Juden behandelt wurden und was aus den Überlebenden geworden ist.

Aus dem Projekt nehme ich mit, dass es egal ist ob man weiß oder schwarz, jung oder alt, klein oder groß, oder sonst wer ist, da alle das Recht haben auf ein würdiges Leben und dass niemals wieder so etwas grausames, wie der Holocaust, passieren soll.

Es ist also sehr wichtig, dass sich immer wieder Leute dafür interessieren und sich bereit erklären Zweitzeuge zu werden, um die Geschichte niemals zu vergessen und zu verdeutlichen, dass keiner jemals wieder so handeln sollte, wie die Nazis es getan haben."

Ole:

„Fast täglich kommt man mit dem Thema Ausgrenzung und Antisemitismus in Berührung. Sei es in sozialen Netzwerken oder im Alltag. Daher habe ich mich vor drei Jahren dazu entschieden, Zweitzeuge zu werden. Ein Zweitzeuge zu sein bedeutet, die Geschichten von Zeitzeugen weiterzuerzählen, da sie langsam verstummen. In unserem Projekt haben wir die Schicksale von Holocaust-Überlebenden den Schülern des siebten Jahrgangs nähergebracht.

Dabei haben mich die Reaktionen und die Anteilnahme der Schüler sehr begeistert. Ich denke, dass es meiner Gruppe mit diesem Projekt gelungen ist, ein Bewusstsein für Antisemitismus und Ausgrenzung zu schaffen. Zudem hat es mich begeistert, dass die Schüler, während wir mit ihnen das Projekt durchgeführt haben, immer leiser und nachdenklicher geworden sind. Dies hat mir gezeigt, dass sie sich auch auf das Thema eingelassen haben.

Aber auch meine persönliche Wahrnehmung hat sich durch das Projekt geändert. So bin ich aufmerksamer geworden, was die Themen Antisemitismus und Ausgrenzung angeht. Einfache Sprüche, über welche ich früher vielleicht nicht weiter nachgedacht hätte, beschäftigen mich, sodass ich mir wünsche, dass wir mit diesem Projekt in Zukunft noch viele weitere Schüler erreichen und für das Thema sensibilisieren können.“

Lina:

„Nach drei Jahren der Durchführung des Projekts, kann ich mich sehr glücklich schätzen Teil des Ganzen geworden zu sein. Zunächst wollte ich mich engagieren und wurde deswegen in der neunten Klasse aufmerksam, als wir uns dafür melden konnten, etwas zum Projekt „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ beizutragen. Als wir dann mithilfe des Vereins Heimatsucher e. V. das Konzept der Zweitzeugen ausgearbeitet haben, war ich hellauf begeistert.

Auch wir haben in der Ausbildung zu Zweitzeugen die Geschichten der verschiedenen Zeitzeugen angehört, um sie weiterzutragen. Dabei ist mir erst bewusst geworden, von welcher Bedeutung es ist, die Geschichten am Leben zu erhalten. Denn sie beschreiben extreme Erfahrungen mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Rassismus, welche auch heute noch aktuelle Themen sind. Diese Leidens- und Überlebensgeschichten weiterzutragen, wurde mir im Laufe des Projekts immer wichtiger und ich erkannte, wie wichtig es auch für andere sein sollte.

Es war immer spannend zu sehen, wie selbst eine sehr unruhige Klasse während der Geschichten und der Nachbesprechung ganz still wurde, denn niemand wollte mehr Witze reißen oder quatschen. Auch ihnen wurde klar, wie schlimm es mal war und dass es nie wieder dazu kommen darf.

Mir persönlich lag es auch immer am Herzen, diese Erfahrungen mit Diskriminierung nicht nur auf Juden zu beschränken, denn ich habe in meinem Umfeld zwar noch keine antisemitische Äußerung wahrgenommen, dafür jedoch beispielsweise ausländerfeindliches Denken. Der Holocaust zeigt wie weit es kommen kann, wenn man die Augen und Ohren verschließt. Es wird Zeit jetzt etwas dagegen zu tun und dabei kann ein solches Projekt immens helfen Menschen dafür zu sensibilisieren.“

 
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