"Amerikaner erzählt vom Experiment „Die Welle“"

 

MT berichtet über Vortrag des Zeitzeugen Mark Hancock


Von T. Gallandi (Meppener Tagespost), 08.07.2015
Meppen. Wer in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten Schüler war, ist ihr begegnet oder hat von ihr gehört: „Die Welle“ gehört vielerorts in textlicher oder filmischer Form zum Unterrichtsstoff, als Warnung vor dem gefährlichen Reiz, den totalitäre Systeme auf junge Menschen ausüben können. Die Geschichte basiert auf Tatsachen. Einer, der sie miterlebt hat, ist Mark Hancock. Erstmals hat er nun Schülern in Deutschland davon erzählt – am Gymnasium Marianum in Meppen.

Im April 1967 wagte der junge Geschichtslehrer Ron Jones an der Cubberley High School im kalifornischen Palo Alto ein Sozialexperiment. Um zu veranschaulichen, wie sich das Leben in einem totalitären System anfühlt, welcher Schrecken, aber auch welche teuflische Faszination darin stecken, errichtete er in seinen zehnten Klassen eine Mini-Diktatur, in der er selbst die Rolle des Führers übernahm.

Drill, Disziplin, Gemeinschaftsgefühl, Abgrenzung der Gruppe zu Außenstehenden, dann noch ein Gruß, ein Logo und ein Name für die Bewegung: „The Third Wave“ (zu deutsch: „Die dritte Welle“) war geboren. Jones, der unkonventionelle Pädagoge, war erfolgreich. Zu erfolgreich. Nach etwa einer Woche sah er sich gezwungen, das Experiment abzubrechen. Die Jugendlichen hatten die faschistoiden Strukturen – inklusive Bespitzelung und Denunziation – derart verinnerlicht, dass ihm die Kontrolle zu entgleiten drohte.

Schullektüre geworden

Diese Episode wäre heute sicher nur noch für wenige Menschen im Großraum San Francisco ein Thema, hätte Jones sie nicht einige Jahre später niedergeschrieben. Inzwischen haben sich mehrere Schülergenerationen im Unterricht mit der „Welle“ befasst. Auch am Marianum. Mark Hancock gehört zu denen, die 1967 dabei waren. Er saß als Schüler in einer der drei Klassen, um die sich Jones’ Versuch drehte. „Seid vorsichtig, wem ihr folgt, weil ihr nie wisst, wohin sie euch führen“, sagt der 64-Jährige heute. Den Meppener Schülern erläuterte er die unterschiedlichen Verhaltensweisen der damals Beteiligten.

Da war die Fraktion der Überzeugten, die das totalitäre System vorantrieb. Dann gab es ein paar, die sich auflehnten, Protest wagten – und mit Rausschmiss aus der Gemeinschaft bestraft wurden. Die größte Gruppe bestand aus Mitläufern, Gleichgültigen und denen, die sich nicht trauten, ihre Stimme zu erheben. „Zu dieser Gruppe gehörte ich“, so Hancock. „Es begann als Spaß und wurde immer verwirrender. Ich hatte den Eindruck, das System nicht ausreichend zu verstehen, um darüber urteilen zu können.“ So leistete er keinen Widerstand, was ihm im Nachhinein peinlich sei.

Verlockende Aussichten

Auf die Frage eines Schülers, ob eine „Welle“ auch heute noch möglich wäre, antwortete der Referent, es sei nach wie vor leicht, andere Menschen zu täuschen. Allerdings könne er sich nicht vorstellen, dass ein solches Experiment an einer Schule machbar wäre. Zu sehr stehe das Geschehen unter Beobachtung von außen: „Heute kämen gleich die Anwälte – und der Lehrer würde am nächsten Tag gefeuert.“

1967, an der High School in Kalifornien, lagen die Dinge anders. Der 25-jährige Lehrer Ron Jones war smart, charismatisch und bei seinen Schülern sehr beliebt. Sie vertrauten ihm. Das System, das er installierte, umfasste Strafen, aber auch Anreize, nämlich gute Noten bei Gehorsam.

Überdies köderte der Pädagoge die Zehntklässler mit der Vision von etwas Größerem: „Er erzählte uns, dass an vielen weiteren Schulen im Land eine ,Welle‘ entstehe.“ Daraus würde eine neue politische Partei erwachsen, die das US-Engagement im Vietnamkrieg beenden würde. Verlockende Aussichten in einer Zeit, als junge Amerikaner befürchten mussten, nach der Schule zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Heute, so Hancock, ließe sich eine Täuschung wie diese mit ein wenig Internetrecherche entlarven. Damals nicht.

Wertvolle Lektion

„Es war eine schmerzhafte, aber wertvolle Lektion fürs Leben“, so sein Resümee. Extreme Positionen betrachte er seither mit Skepsis. Nach dem Schulabschluss studierte Hancock in Berkeley Architektur und arbeitete in der Immobilienbranche, ehe er diese 2008 verließ und auf soziale Dienste umsattelte.

Von Seattle aus, wo er heute lebt, reist er immer wieder zu Schulen in den USA und außerhalb, um von seinen Erlebnissen vor 48 Jahren zu berichten. Ein Engagement, das er künftig erweitern möchte. Über seine Website zur „Welle“ wurden auch die beiden Meppener Lehrer Franz Albers und Henning Harpel auf Hancock aufmerksam und luden ihn ans Marianum ein.

Mit seinem einstigen Lehrer Ron Jones steht er übrigens noch in regem Kontakt. Jones, inzwischen 74, verließ wenige Jahre nach der „Welle“ den regulären Schuldienst und unterrichtete fortan Menschen mit Behinderungen. Auch er hält regelmäßig Vorträge an Schulen. Um zu informieren und zu warnen.
Zur Sache:
Seine Erfahrungen mit dem Sozialexperiment „The Third Wave“ hielt Ron Jones 1976 als Kurzgeschichte fest. Es folgte die Verarbeitung zu einem Roman, zwei Spielfilmen, einem Theaterstück, einem Musical und einem Dokumentarfilm.

Die Spielfilme orientieren sich weitgehend an den tatsächlichen Geschehnissen; einige Darstellungen allerdings sind frei interpretiert. Anders als beispielsweise in der deutschen Verfilmung von Dennis Gansel im Jahr 2008 kam es im April 1967 an der Cubberley High School in Palo Alto zu keinen Gewaltakten in Zusammenhang mit der „Welle“.

Informationen unter www.thewavehome.com und www.lessonplanmovie.com.