Bericht der Meppener Tagespost vom 6.2.2014


St. Petersburg

 

Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages


Von Lea Fischer, 05.02.2014
„Nichts wird vergessen. Niemand wird vergessen“. Dieser Satz stammt von Olga Bergholz, der „Stimme der Blockade“, die zur Zeit der Belagerung von Leningrad, verursacht durch die deutsche Wehrmacht, in der Stadt lebte.

Vom 19.-27. Januar 2014 reiste ich im Rahmen der Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages für vier Tage nach St. Petersburg, das damalige Leningrad, und nahm zum Abschluss an der Gedenkveranstaltung im Bundestag teil. Drei Tage bevor die Reise losgehen sollte, erhielten wir die Materialsammlung und somit schon gleich den ersten Schock. 294 Seiten zum Thema „Die Blockade von Leningrad und der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion“.

Nach dieser Woche weiß ich jetzt, dass dieses Thema solch einer umfassenden Aufarbeitung tatsächlich bedarf. Denn die Belagerung von Leningrad war kein Zufall, sie war nicht durch die militärische Stärke der Roten Armee begründet, die die Wehrmacht nicht weiterließ. Nein, sie war geplant. Schon im Juli, zwei Monate vor dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in das Leningrader Gebiet, war klar, dass nie ein deutscher Soldat diese Stadt betreten würde. Leningrad sollte nicht eingenommen, es sollte zerstört werden. Und genauso die ca. 3 Millionen Einwohner, die zu der Zeit in der Stadt lebten. „In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig ersterben. Wir brauchen uns da gar keine Gewissensbisse machen. Wir leben uns nicht in die Rolle des Kindermädchens hinein, wir haben überhaupt keine Verpflichtung den Leuten gegenüber.“, so Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für Arbeitseinsatz.

Aufgrund dieser geplanten Ausrottung der Stadt stellt die Belagerung von Leningrad eines der besten Beispiele für den rücksichtslosen und rassistischen Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus dar und bedarf deshalb in besonderem Maße unserer Aufmerksamkeit. Leider wird in deutschen Schulen dieses Thema fast nie zur Sprache gebracht. Die meisten unserer Teilnehmer, mich eingeschlossen, hatten vor dieser Woche noch nie etwas von der Belagerung Leningrads gehört. Erschreckend, wenn man dann erfährt, dass in den fast drei Jahren der Belagerung ca. eine Million Menschen starben. Diese Zahl ist vergleichbar mit den Opfern von Auschwitz.

Doch uns interessierte nicht nur die Belagerung und die Blockade an sich, uns interessierte auch, wie mit den Geschehnissen heute umgegangen wird. Im Zuge unserer Reise besichtigten wir Museen, Denkmäler, Friedhöfe; führten Zeitzeugengespräche und Diskussionen mit Schriftstellern und Veteranen. Zwei Dinge fielen mir dabei besonders auf.

Erstens: In all unseren Gesprächen, die wir mit Überlebenden der Blockade, Veteranen und ehemaligen Zwangsarbeitern führten, schlug uns nie Schuldzuweisung, Verachtung oder Vergeltung entgegen. Wir wurden herzlichst empfangen, uns wurde frei und offen von dem Erlebten erzählt und am Ende wurden wir unter Tränen verabschiedet. Tränen aus Freude darüber, dass wir zugehört und uns interessiert hatten. Eigentlich etwas Selbstverständliches.

Zweitens: Das Denkmal der heldenhaften Verteidiger Leningrads, der Piskarjowskoje-Friedhof und der Moskauer Siegespark, all diese Orte der Erinnerung zeigten die heroische Seite des Krieges. Sie zeigten Heldentum und Glorie. Aber nicht eines erinnerte wirklich an die Opfer, an die unschuldige Zivilbevölkerung, die in der Stadt an Hunger litt und starb. Auf dem See, im Moskauer Siegespark, in dessen Erde die Asche der verbrannten Leichen der Blockade liegt, wird heute Schlitten gefahren. Direkt daneben befindet sich ein Vergnügungspark. Der 27. Januar, der Gedenktag an das Ende der Blockade, der sich dieses Jahr zum 70. Mal jährt, wird mit einer Militärparade begangen, die der Soldaten und Helden gewidmet ist. Doch nirgendwo wird an die Schwäche der Machthaber zu Beginn der Blockade und die schweren Verluste, die jede Leningrader Familie erleiden musste, erinnert.

Beim Besichtigen der Denkmäler verstand ich nicht, wie so eine „verfälschte“ Erinnerungskultur entstehen konnte. Aber nach einigen Gesprächen und Vorträgen, begann ich die russische Perspektive zu verstehen.

Diese Perspektive entstand zum einen aus dem positiven Ausgang des Krieges für die Rote Armee. Russland ist eine der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und natürlich wird deshalb an den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gedacht. Zum anderen spielt die Vergangenheit Russlands eine Rolle. Nach dem Ende des Krieges durfte über die Blockade nicht mehr gesprochen werden, sie wurde zum Tabuthema, da während der Belagerung einige militärische Entscheidungen zu Gunsten Moskaus gemacht wurden, während Leningrad fast vollständig aus dem politischen Fokus fiel. Dieses und weitere Fehlverhalten sollten nicht aufgedeckt werden, damit das Regime nicht ins Wanken geriet. Daher ging das erste und zugleich das wichtigste Jahrzehnt der Erinnerung verloren.

Des Weiteren wird das Wort „Opfer“ im Russischen anders verstanden als im Deutschen. Im russischen Denken sind „Opfer“ Menschen, die bei einer Naturkatastrophe oder etwas ähnlichem umkommen und nicht für etwas sterben. Die Leningrader aber waren für etwas gestorben, nämlich für ihre Stadt, über die sie sich zum großen Teil mehr identifizierten als über den Kommunismus oder „Mütterchen Russland“.

Außerdem ist diese Art von Gedenken aus der russischen Mentalität entstanden, die Krieg, nicht wie viele andere Nationen, immer als etwas Sinnvolles ansehen, das einem Zweck dient und Verbesserung bringt. Auch deshalb stehen die Soldaten und Veteranen im Vordergrund des russischen Gedenkens.

Doch muss gesagt werden, dass ohne die Leningrader Bewohner, die das Leben innerhalb der Stadt aufrecht erhielten, die Waffen und Munition produzierten, obwohl sie sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten konnten und die die Front mit Lebensmittel versorgten; ohne diese Menschen wäre es nicht möglich gewesen, die Stadt am Leben zu halten. Eine der größten Leistungen dabei war sicherlich, dass trotz der übergroßen Entbehrungen, trotz des Hungers und der Not, eine Zivilgesellschaft bestehen blieb. Dass es neben Kannibalismus und Diebstahl auch immer noch Menschen gab, die anderen halfen, die sogar noch ihre 125g Brot teilten. Aus diesem Aspekt heraus entstand auch die Tradition, dass bis vor kurzem die Regel bestand, dass alles, was auf den Tisch kommt, geteilt und vor allem aufgegessen wird, aus dem Gedenken an die Hungertoten.

Nach dieser Woche weiß ich nun, dass es einen Unterschied zwischen persönlichem und offiziellem Gedenken gibt. Gedenken und Erinnern hängt nicht von wissenschaftlicher Richtigkeit und geschichtlichem Wissen ab, denn Erinnerungen sind beliebig, sie folgen ihren eigenen Gesetzen, setzen Schwerpunkte, wo die Menschen, die ihr Andenken weitergeben, es für nötig halten. Erinnerungen leben nicht nur in Lehrbüchern fort, sie überdauern vielmehr in dem Gedächtnis der Menschen und werden deshalb von deren Mentalität und Perspektive bestimmt.

Und da Geschichte häufig aus Erinnerungen entsteht, gibt es auch nicht nur eine Darstellung der Geschichte, sondern so viele, wie es Menschen gibt, die sie erlebt haben.

Doch egal, wie wenig das offizielle Gedenken das persönliche Gedenken widerspiegelt, wichtig ist nur, dass wir gedenken. Um der Opfer willen, denn es ist das Mindeste, das wir heute tun können. Damit nichts und niemand vergessen wird, der so einen sinnlosen Tod sterben musste.